01.06.2022
VERÄNDERUNG
Der E-Commerce hat die Handelswelt auf den Kopf gestellt. Einkaufen ist bequem; der Kunde kauft wann und wo er will. Doch der Wandel im Handel geht weiter, auch in der Baumarkt-Industrie. Ein bekanntes Vergleichsportal baut aktuell das Segment Baumarktartikel auf und ist in Gesprächen mit Zulieferern sowie Baumärkten. Die Pandemie war der Beschleuniger für digitale Beratung im Baumarkt. Mit dem ManoMano Marktplatz ist ein Online-Pure-Player in den Markt eingedrungen. HORNBACH hat in sein Interconnected Retail Programm hohe 2-stellige Millionensummen investiert und wohl nicht nur den besten Webshop der Branche geschaffen, sondern auch ähnlich wie IKEA eine sehr gute Verbindung zur stationären Fläche geschaffen. Zudem werden viele neue Formatideen getestet und ausgerollt.
DER BAUMARKT DER ZUKUNFT ...
... ist klein oder mittel oder groß; er ist analog und unbedingt zugleich auch digital; er kann flexibel dauerhaft oder temporär stationär sein, aber auch durchaus mobil. Der Baumarkt der Zukunft ist auf jeden Fall hybrid und ganz nah am Kunden und dessen Bedarf.
Fakt ist, die stationäre Welt verändert sich je digitaler sie wird. Fakt ist auch, dass der Baumarkt der Zukunft ganz NAH und präsent beim Kunden sein muss. Der Baumarkt der Zukunft bietet seinem Kunden genau das Sortiment was er gerade benötigt – zum richtigen Zeitpunkt, in der richtigen Menge und Qualität mit so wenig wie möglich Aufwand für den Kunden und natürlich zu einem guten Preis.
Und auch wenn der Online-Umsatz im gesamten Handel stetig wächst und 2020 jetzt schon 12% ausmacht (Segment Heimwerken/Garten 7,1% Quelle: IFH), so wird das reine Online-Geschäft für Baumarkt-Artikel eher begrenzt sein. Der Versand für große und schwere Artikel wie Baustoffe, Holz, Böden oder Baufertigteile direkt zum privaten Endkunden wird immer mit zum Teil hohen Zusatzkosten verbunden sein. Der Click&Collect Service ist dagegen für den Kunden kostenlos. Der Weg des Kunden in den stationären Baumarkt zur Reduzierung der Projektkosten ist also gerade bei logistisch aufwändigeren Produkten durchaus sinnvoll.
Die schnelle Expansion mit differenten Kompetenzen
Aktuell hat der Kunde eine Gesamt-Fahrzeit von ca. durchschnittlich 40 Minuten im ländlichen Raum und rund 15-20 Minuten in der Stadt (außerhalb der Rushhour) zum lokal nächstgelegenen Baumarkt. (Quelle: Klaus Peter Teipel research & consulting) Für größere Projekte nimmt der Kunde allerdings weitaus längere Fahrzeiten zu den großen und preisaktiven Destination-Stores in Kauf.
Bedeutet: Wenn man als Handelskonzern mit großen Märkten und reduzierter Dichte die Fahrtzeit für Projekt-Kunden verkürzen will und zugleich im Terrain des Wettbewerbers fischen will, dann wird der Webshop alleine nicht ausreichen.
BAUHAUS, HORNBACH, HAGEBAU, GLOBUS, OBI und TOOM stehen für große Bau- und Gartenmarkt-Kompetenz. Jeder dieser Händler hat Kompetenz-Schwerpunkte sowie gut ausgearbeitete Shop-in-Shop-Systeme. Warum sollte also ein BAUHAUS oder ein HORNBACH nicht ihre Kompetenzabteilungen, wie die BÄDERWELT oder das HAUS DES BADES, der GARTENPLANER, den Baustoff-DRIVE-IN, eine Boden-Welt, ein Türen-Studio oder eine Beschattungsboutique in ein eigenes Fachzentrum extrahieren? Natürlich mit angedocktem Abhol-Center der bestellten Ware aus den über 100.000 Artikeln des Webshops! Auch für den Profi wäre eine kürzere Zeit im Auto zum nächstgelegenen Abhol-Center sehr wertvoll.
Und warum sollte BAUHAUS nicht seine NAUTIC Boots-Zubehör-Abteilung als singuläres Fachzentrum in die NÄHE aller relevanten Meer-, See- und Fluss-Kontakte positionieren?
Differente Abteilungen, die wahrscheinlich auch stand-alone funktionieren würden:
Und vielleicht eröffnet der eine oder andere Baumarkt auch ein Outlet für Handwerksbekleidung und stellt sich damit einmal der Übermacht des Quasi-Monopolisten STRAUSS entgegen. J
Der Fachhandel würde mit den neuen kleinen Fachhandels- Vertriebsformen – nennen wir sie Kompetenz-Fragmente – starken Wettbewerb bekommen. Auch ein FRESSNAPF oder ZOOKÖLLE könnten weitere Mitbewerber bekommen; der eine oder andere Baumarkt hat ja starke Eigenmarken-Konzepte.
Könnte ein HORNBACH von einem Rollout der Kompetenzabteilungen in kleinere Fachmarkt-Zentren mit angedocktem Abhollager in bisher schlecht abgedeckten Großstädten wie beispielsweise Hamburg profitieren und dadurch zur Nummer 1 in Hamburg werden?
Click&Collect eines jeden Artikels aus dem gesamten Sortiment innerhalb von wenigen Stunden durch ein separates Logistikzentrum vor den Toren Hamburgs?
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FRAGMENTIERUNG FÜR DIE SCHNELLE EXPANSION
Die Filetierung oder Fragmentierung eines großen Marktes in Fachzentren oder Kompetenz-Studios erscheint insofern sinnvoll als dass man damit ein dichtes Netz von vielen Kontaktpunkten in einer Stadt generieren kann. Der Händler ist quasi omnipräsent und unterstreicht zudem seine Einzelkompetenzen. Mit einem großen Lieferzentrum vor der Stadt oder aber mit der Nutzung des nächstgelegenen Großformats als Zentrum eines lokalen Satellitensystems und Stützpunktlagers bzw. Logistikzentrum für die kleineren Formate.
Ich bin der festen Überzeugung, dass derjenige Baumarkt gewinnt, der NÄHER am Kunden ist – lokal, im Verständnis für lokalen Bedarf und im Wissen um die Projektumsetzung der Kunden daheim.
Die Strategie macht insofern auch Sinn, da es zum einen nicht mehr wirklich viele geeignete Standorte für Big-Boxes gibt. Die Expansion light reduziert zudem deutlich die für Großprojekte aufwendigen Behördenprozesse. Eine Metropole kann von einem Destination-Store daher noch einfacher erobert werden.
DIE NÄHE FORMATE IM BAUMARKT
Und was passiert bei den Baumärkten? Es wird wie schon erwähnt einiges probiert, aber auch manches wieder eingestampft. Die Kleinstflächen in den Innenstadtlagen von JUMBO und LEROY MERLIN funktionieren hervorragend. HORNBACH expandiert mit kleineren Projekt-Baumärkten in Schweden und testet ein Flooring-Format unter der Marke BODENHAUS in Deutschland und in den Niederlanden das aus dem Markt Kerkrade extrahierte Konzept HORNBACH VLOEREN.
Toom arbeitete 2018 ein paar Monate mit den temporären Pop-Up-Stores STADTGRÜN und STADTBUNT. Der Concept Store OBI CREATE steht seit 2019 im Herzen von Köln und in Hamburg hat der vielbeachtete Stadtbaumarkt HORST bereits seit 2018 geöffnet, jedoch ohne bisher ein weiteres Geschwisterchen in einer anderen Stadt zu bekommen.
Rechts:
Die Stadtkonzepte von HORST und Jumbo
Links:
HORNBACH VLOEREN
Im November 2021 hat in Kerkrade das HORNBACH VLOEREN geöffnet – ein Fachmarkt für Böden aller Art bis zum Industrie-Boden. Übrigens auch gut beschrieben im DIY Heft 07/22
Sehr smart: die jüngst eingegangene Kooperation zwischen MANOR und DÉCATHLON in der Schweiz. MANOR testest eine Shop-in-Shop-Einheit von Décathlon in seinen Häusern sowie die den Verkauf der DÉCATHLON Artikel auf seinem online-Marktplatz. Das ist WinWin – DÉCATHLON expandiert schnell mit neuen Standorten (NÄHER!) und MANOR wird sicher von der steigenden Kundenfrequenz und einem differenten Reason-Why steigenden Kundenfrequenz und einem differenten Reason-Why profitieren.
Links
Das kleine Stadtformat con Décathlon Connect in Berlin
Rechts:
Der REWE Testmarkt "Josefs Nahkauf Box" in Pettstadt: Innovative NAHversorgung für zentrumsferne Orte im ländlichen Raum.
24/7 und kassiererlos
Wenn man NÄHE noch weiter untersuchen will, dann lohnt es sich den Kundenbedarf in den verschiedenen Lebensphasen zum Thema Bau und Garten in Augenschein zu nehmen.
TEMPORÄRE NÄHE IM NEUBAUGEBIET
Betrachtet man die Lebenszyklen einer Immobilie und fängt quasi bei dem ersten Spatenstich bis zu den ersten Monaten des Einzugs an, so lässt sich hier schon Bedarf feststellen. Da sind zum einen die Handwerker, die immer Nachfrage an zusätzlichem oder fehlendem Material haben und dieses auch zumeist kurzfristig benötigen. Temporäre Pop-Ups bzw. mobile Einheiten in Neubaugebieten mit einer 2-Stunden Lieferung aus dem nächsten eigenen Destination Store - quasi ein Bestell- und Abhol-Center aufgebaut aus Containern - würden dem Handwerker entsprechend Fahrtzeit und damit auch Arbeitszeit / Kosten sparen.
Diese temporären Pop-Ups könnten sicher auch dem Privatkunden (Selbstausbauer oder Gartenanleger) im ersten halben Jahr des Immobilienlebens einen besonderen Service bieten. Die Idee ist im Übrigen nicht komplett neu. Leroy Merlin hat bereits vor vielen Jahren mit Pop-Ups in vor russischen Trabantenbauten gearbeitet, in denen Eigentumswohnungen üblicherweise unausgebaut verkauft werden. Das war allerdings lange vor einem web-gestützten Click & Collect System; das Potential in westeuropäischen Einfamilienhaussiedlungen dürfte zudem deutlich höher liegen.
TEMPORÄRE BERATUNGSCENTER
In Zeiten der explodierenden Energiekosten gibt es gerade bei den Einfamilienhaus-Siedlungen der 60er und 70er Jahre einen erhöhten Beratungs-Bedarf. Auch hier bietet sich ein temporäres Pop-Up-Beratungs-Center für die mögliche energetische Sanierung an. Bei fehlendem eigener Beratungskompetenz kann eine Kooperation mit einem lokalen Energieberater helfen.
TEMPORÄRE NÄHE SCHAFFT BEKANNTHEIT UND SICHTBARKEIT
Die Eröffnung eines neuen Baumarktes in einer neuen Region ist aufwändig. Häufig ist das ja kein weißes Gebiet, sondern ein anderer Platzhirsch ist in der Region bereits der gelernte Zielbaumarkt. Die Bekanntmachung der eigenen neuen Big-Box mit den differenten Sortimenten, Abteilungen, Services und spezifischen Highlights ist eine echte Herausforderung für den Markt und das Marketing.
Unterstützt werden kann diese Eröffnung bereits während der häufig auch mal länger andauernden Bauphase ebenfalls mit einem Pop-Up-Store, ähnlich wie es TOOM bereits mit seinen Stores in Köln und Frankfurt getan hat. Ein angemietetes Ladenlokal in der Stadt mit monatlich wechselnden Highlights, differenten Sortimenten - beispielsweise ein Grill-Monat mit einer starken Grill Eigenmarke oder dem gesamten Grill Sortiment in den Monat Mai/Juni? - um die Menschen am neuen Standort mit den Highlights und den Stärken bereits vertraut zu machen. Quasi die lange Feier der Voreröffnung mit dem Ziel des Kennenlernens. KINGFISHER hat in einigen östlichen Ländern übrigens die baldige Eröffnung eines neuen Marktes mit Verkaufsständen auf Flohmärkten vorgefeiert.
Innovativ: Die TOOM Pop-Up-Stores
DIE MARKENARTIKLER
In Zeiten vor dem Internet gab es für den Markenartikler wenig Möglichkeiten am Handel vorbei direkt mit dem Endkunden in Kontakt zu treten. Echte NÄHE mit wirklichen Kundenfeedbacks war dem Handel vorbehalten. NÄHE war nur über entsprechend ausgesteuerte Kommunikation möglich.
Mit der digitalen Revolution, mit AMAZON, mit den Market-Places und (Marken-eigenen) Webshops hat sich der Handel drastisch verändert und den direkten Kundenkontakt intensiviert. Für den Markenartikler ist digitale NÄHE mit eigenem WebShop ein Pflichtprogramm.
Bereits lange vor dem Internet gab es Markenartikler, die mit eigenen stationären Shops die NÄHE zum Kunden suchten, aber damit auch neben dem Vertrieb über den Handel die gesamte Wertschöpfungskette selbst steuern konnten.
Ein gutes Beispiel außerhalb des DIY: ADIDAS hat sich letztendlich mit der starken Marke frühzeitig gegen die INTERSPORT mit eigenen Stores durchgesetzt. Weitere Beispiele sind WMF und LEGO.
ADIDAS Flagship Store Shanghai
LEGO und WMF in Berlin
EIGENE STATIONÄRE NÄHE FÜR MARKENARTIKLER
Niemand weiß, wie sich der Handel in den kommenden 30 Jahren konkret entwickeln wird. Niemand weiß, wer von den aktuellen Playern der große Gewinner sein wird, wer neu dazukommt oder welches innovative Start-Up vielleicht noch besser am Kunden arbeitet. Daher bietet es sich für einen Markenartikler an, omnipräsent auf allen Distributionskanälen vertreten zu sein. Das beinhaltet auch, über stationäre (Pop-Up) Flächen zumindest nachzudenken – ob nun eigen betrieben oder vertraglich vergeben.
Die Beispiele KÄRCHER und WEBER
Kleine stationäre Outlets – das ist vor allem auch eine Chance für beratungsrelevante Projekt-Anbieter und kompetente Vollsortimenter – immer auch mit dem Ziel die Kompetenz der Marke zu unterstreichen. Natürlich mit allen neuen Herausforderungen für den Markenartikler, wie der Standortwahl oder dem lokalen Marketing.
Ein Kompetenzzentrum wie ein ISOVER DÄMMSHOP (oder das ISOVER Energiesparzentrum in Kooperation mit entsprechend weiteren Partnern der energetischen Sanierung) entsprächen sicher nicht nur dem Zeitgeist, kundenseitig gäbe es gerade aktuell wahrscheinlich auch entsprechend Zulauf. Auch ein BOSCH Power Park oder ein VILLEROY&BOCH /GROHE Badstudio sind nicht abwegig. Zumal VILLEROY&BOCH im Dining & Lifestyle Bereich bereits in Factory-Outlets mit eigenen Shops aktiv ist und nicht sicher ist, in welche Richtung sich der große Partner GALERIA entwickelt.
BOSCH, GROHE und Husqvarna, ganz viel baumarkt-implementierte Sortiments- und Markenkompetenz transportiert in großen Shop-in-Shop-Konzepten
Es gibt viele Möglichkeiten ein Stück weit NÄHER an die Kontaktpunkte der Customer Journey zu gelangen und dem Kunden noch mehr Service in ihrem/seinem Bedarf zu geben. Die Themen Augmented Reality, Showrooming oder Exklusiv-Kooperation sind sicher auch noch einmal ganz gesondert zu beleuchten.
Fakt ist, dass sich der Standard des Handelns in den letzten 20 Jahren revolutionär verändert hat. Dabei sind manche Standards und Regeln auch weiterhin gültig, aber noch wichtiger ist die kundenzentrierte Veränderungsbereitschaftund revolutionäres Out-of-the-box-Denken. Disruption geht vom Kunden aus und es wird sicher auch noch zu Marktverschiebungen kommen, weil sich der eine oder andere besser anpasst und noch NÄHER zum Kunden rutscht.
"Das meiste ist noch ungetan. Wunderbare Zukunft!" (Ingvar Kamprad)
ZUSAMMENGEFASST
Vielen Dank an das DIY Fachmagazin.
Der Artikel ist erschienen im DIY-Fachmagazin in 2 Teilen in den Ausgaben Juni & Juli 2022
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